Redebeitrag des AFK37 zum Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938, vom 09.11.2025
Content Warning Antisemitismus, Selbstmord, Shoa
Wir orientieren uns beim Gendern an einer Empfehlung der queerfeministischen jüdischen Gruppe Latkes*Berlin. Wir sagen Juden:Jüdinnen auf diese Weise, weil das Wort „Jude“ in anderen Varianten verschwinden würde, sowie ein Sternchen hinsichtlich des Judensterns unangemessen erscheint.
Es ist nachgewiesen, dass es in Hildesheim seit dem Spätmittelalter eine jüdische Gemeinde gab. Die Synagoge am Lappenberg wo wir heute enden werden, wurde 1849 eingeweiht. Für die jüdische Gemeinde war sie von großer Bedeutung, denn bevor es diese Synagoge gab, musste sich die Gemeinde in einem Keller für Andachten und Feste treffen. Der Bau der Synagoge bedeutete für Juden:Jüdinnen, dass sie ihren Glauben würdig und öffentlich ausleben konnten. Bei der Machtübernahme der Nazis lebten 515 jüdische Menschen in Hildesheim, also etwa 0,8% der Bevölkerung Hildesheims. Durch zunehmende Schikanen, Entrechtungen, Verfolgung und Gewalt, mussten viele von ihnen fliehen. Als Beispiel seien die Modegeschäfte in jüdischem Besitz genannt. Vor der Machtübernahme der Nazis waren 60 % der Hildesheimer Modegeschäfte von Juden:Jüdinnen geführt. Bereits 1933 wurden mehrfach die Schaufenster zerstört. Es wurden SA-Männer mit Schildern „Kauft nicht bei Juden“ aufgestellt und ab 1938 viele Geschäfte enteignet und sogenannten „arischen“ Deutschen überschrieben. Es blieben lediglich etwa 5 % der Geschäfte in jüdischem Besitz. 330 Mitglieder der Gemeinde sahen sich gezwungen, nach Palästina, die USA, Südamerika, England, die Niederlanden und Skandinavien zu fliehen.
Im September 1938 floh dann auch Joseph Schwarz, der letzte Rabbiner der Gemeinde, aus Hildesheim.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die SS in Hildesheim per Telefon angewiesen, die Synagoge am Lappenberg in Brand zu setzen: das Gebäude, das wie kein anderes in Hildesheim für die jüdische Gemeinde und ihre lange Geschichte hier stand.
Die Feuerwehr hatte Befehl, den Brand nicht zu stoppen, sondern nur die umliegenden Häuser vor den Flammen zu schützen.
Noch in der Nacht begannen die SS-Männer damit, die verbliebenen jüdische Geschäfte zu zerstören, die Scheiben einzuschlagen und zu verwüsten; das setzten sie am Morgen des 10.November fort. Die Polizei ließ sie gewähren. Es kam zu Plünderungen.
Die Schüler*innen der jüdischen Schule gegenüber der Synagoge wurden am Morgen des 10. November gezwungen, beim Abriss der letzten Trümmer der Synagoge zuzuschauen. An diesem Morgen wurden 60 Juden verhaftet. Schon im April desselben Jahres war eine Aufstellung ihres Vermögens angefertigt worden. Die Nazis haben sie zuerst im Polizeigefängnis misshandelt und gedemütigt und dann ohne Schnürsenkel und Hosenträger durch die Stadt ins Godehardigefängnis getrieben. Die SS Männer und die Gestapo ließen sie dabei einen Umweg an der ausgebrannten Synagoge vorbei laufen. Einige der Gefangenen blieben im Godehardigefängnis, der Großteil wurde in Lastwagen nach Hannover gefahren und von dort aus mit einem Sonderzug ins KZ Buchenwald gebracht. Bei den meisten von ihnen ist nicht nachzuverfolgen, was ihnen dann widerfuhr. 13 von ihnen kamen aus Buchenwald wieder frei. Viele ergriffen hier nun die letzte Chance zur Flucht.
1942-1945 folgten drei weitere Deportationen. Dabei wurde ein Großteil der verbliebenen Juden:Jüdinnen in das Warschauer Ghetto und nach Theresienstadt transportiert. Von diesen Menschen haben vermutlich nur 4 den Nationalsozialismus überlebt.
Nur 5 der 515 Juden aus dem damaligen Regierungsbezirk Hildesheim, die nicht fliehen konnten, wurden bis Kriegsende nachgewiesenermaße nicht deportiert und blieben in Hildesheim. Über ihre Geschichte ist nicht mehr bekannt.
Es lässt sich erkennen, dass Antisemitismus einer Vernichtungslogik folgt. Es geht dabei in letzter Instanz immer darum, auszulöschen. Er sagt nicht „Ihr seid minderwertig“, sondern „ Ihr seid übermächtig, zerstörerisch. Ihr dürft nicht existieren“. Damit unterscheidet er sich grundlegend von anderen Diskriminierungsformen. Antisemitismus ist eine Ideologie der Auslöschung.
Im Nationalsozialismus wurde die physische Auslöschung jüdischen Lebens bis hin zum industriellen Massenmord, der Shoa, getrieben. Diese bleibt ein beispielloses Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
In Hildesheim wie im Rest vom Deutschen Reich war dieser Antisemitismus nicht nur eine Ideologie der Herrschenden; sie war tief verwurzelt in der Bevölkerung. Das erst schuf den Nährboden; Das erst ermöglichte das Verbrechen der Shoah.
Nach Kriegsende fand eine Entnazifizierung weder in Behörden noch in der Regierung und auch nicht in den Köpfen der Deutschen statt. Das ist ein Erbe, das Deutschland immer noch tief in sich trägt, das es jedoch verleugnet.
Auch heute ist Antisemitismus weit verbreitet, und zwar nicht nur bei den Nazis!
Wir denken dabei an das bürgerliche Lager, wo Aiwanger nach Bekanntwerden seiner antisemitischen Pamphlete nicht zurücktreten musste und seine Partei sogar noch an Stimmen gewann. An Querdenker, die sich als Ungeimpfte selbst den Judenstern vergaben. An Esos, die hinter der Schulmedizin eine jüdische Weltverschwörung vermuten. An Islamisten, die eine Weltordnung ohne Juden:Jüdinnen schaffen wollen. Und auch an Linke, die den 7 Oktober nicht als antisemitisches Massaker anerkennen können.
Doch es ist verzwickt. Selbst die politische Agenda gegen Antisemitismus ist oft nur Wortklauberei.
Mit dem Begriff „Gedächtnistheater“, der von Y. Michal Bodemann geprägt wurde, lässt sich das gut zeigen. Nach Ende des Krieges hat es noch Jahrzehnte gedauert, bis Deutschland begann, sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen. Nach Jahren der Verleugnung, der Relativierung, des Schweigens über die eigene Beteiligung oder die der Eltern und Großeltern ist es nun endlich so weit. Deutschland ist Erinnerungsweltmeister. Selbsternannt.
An Tagen wie heute geht es vielen gar nicht darum, der Shoah zu gedenken. Es ist ein moralisches Ritual, um uns ein gutes Gewissen zu verschaffen. Es geht nicht um echte Empathie, historische Verantwortung oder Solidarität mit jüdischem Leben. Wie ein Theaterstück wird dieses Ritual vor allem an Gedenktagen aufgeführt. Die Opfer der Shoa und ihre Nachkommen sind dabei nichts mehr als Statist*innen, die auf der Bühne im Hintergrund den Nachkommen der Täter als Hauptdarstellern nicht die Show stehlen sollen. Und nach dem Applaus geht der Vorhang zu und es ist alles wie zuvor; man ist nur ein kleines bisschen reiner gewaschen, ein kleines bisschen weniger schuldig.
Der Autor Max Czollek schreibt mit seinem Buch „Desintegriert Euch“ einen an Juden:Jüdinnen gerichteten Appell, sich der Dynamik des Gedächtnistheaters bewusst zu werden und eigene Handlungsspielräume zu erkennen und zu ergreifen. Und als Nachkommen der Tätergesellschaft? Susann Siegert, die Content-Creatorin mit alias keine.errinerungskultur, fordert in ihrem Buch „Gedenken neu denken“ eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad. Aber natürlich ganz anders, als das 2017 von Björn Höcke gefordert wurde. Höcke wollte dem Gedenken den Rücken kehren. Siegert fordert uns alle auf, dem Gedenken ehrlicher und selbstkritischer zu begegnen.
Wir können uns zum Beispiel mit Täterschaft in der eigenen Familie auseinandersetzen, indem man Anfragen ans Bundesarchiv stellt, das euch erzählen kann, was eure Großeltern damals getan haben.
Wir können Tage abseits des 9.11. oder des 27.1. wählen, um zu gedenken. Den Tag des Warschauer Ghettoaufstands als Zeichen jüdischen Widerstands zum Beispiel oder morgen. Den 10.11., den Tag nach der Reichspogromnacht, an dem niemand der normalen deutschen Bürger einschritt, als jüdische Geschäfte verwüstet wurden. Und sich sogar an den Plünderungen beteiligte.
Wir können uns in unserer Umgebung umsehen. Denn es gab nicht nur Auschwitz oder Buchenwald. In Deutschland gab es mehr als 1000 KZ-Außenlager, zum Beispiel auch in Hildesheim in der ehemaligen Stadthalle. Die Verbrechensorte des Nationalsozialismus nur auf die großen, bekannten zu verschieben, bedeutet, dass auch die Schuld externalisiert wird. Dieses Gedenken kann nicht ehrlich und empathisch sein, weil es ganz weit weg und nicht nah dran, in der Hildesheimer Innenstadt, gedacht wird. Wenn wir sagen: „Die Verbrechen, die sind ganz weit weg passiert. Das waren die anderen, nicht meine Familie, nicht in meiner Stadt“ – dann sprechen wir uns auch frei von einer ernst gemeinten Verantwortung.
Ein Beispiel für unbekanntere Geschichten aus Hildesheim wollen wir euch an dieser Stelle noch erzählen:
Und zwar die Geschichte von Berta Cassler.
Berta Cassler war Jüdin und Textilverkäuferin. Ihre Tochter heiratete einen nichtjüdischen Mann und lebte mit ihm in der Osterstraße 3. Berta Cassler lebte auch bei ihnen und konnte sich so zuerst der Verfolgung entziehen. Als sie am 7. Juni 1942 wegen einer kleinen Operation ins Bernwardskrankenhaus musste, wurde sie dort von einer Person als Jüdin identifiziert und musste sofort die Station verlassen. Sie sollte dann einen Judenstern als Erkennungszeichen tragen, weigerte sich aber. Um diesem Zwang und der drohenden Deportation zu entgehen, nahm sich Berta Cassler selbstbestimmt direkt nach dem Krankenhausaufenthalt das Leben. Dank eines deutschen Nachbarn der Familie, der ein Bestattungsinstitut hatte, konnte sie nachts heimlich auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt werden.
An dieser Stelle wollen wir mit den Recherchen von zwei lokalen Journalisten und damit nach all der Kritik am Gedächtnistheater ein positives Beispiel der Gedenkarbeit hervorheben. Dank Vereinen wie „Vernetzes Errinern Hildesheim“ und anderen Geschichtswerkstätten, ist es uns heute möglich, an den verschiedenen Stolpersteinen nicht nur die ritualisierte Reinigung der Stolpersteine – als Reinigung des eigenen Gewissens-vorzunehmen, sondern uns konkret mit den Menschen und Schicksalen dahinter auseinanderzusetzen.
In Hildesheim, wo am Galgenberg heute noch ein riesiges Kriegerdenkmal in Form eines Landser (also deutschen Soldaten) über der Stadt thront; wo man über die Agnes-Miegel-Straße, die Bückebergstraße oder den Hindenburgplatz flanieren kann, wo man bei Bosch wieder wie 1945 Panzeranlasser baut und die geschichtsrevisionistische AfD immer mehr Stimmen bekommt, ist ein Gedenken mit Inhalt und somit auch politischer Forderung notwendig. Die Stadt macht mit ihrer Ausstellung „Hildesheim: Blüte, Zerstörung, Wiederaufbau“ im RPM jedoch genau das Gegenteil. Man beweint hier die Bombardierung Hildesheims, ohne historisch einzubetten, warum die Bomben fallen mussten.
Während an Tagen wie dem 9.11. in ganz Deutschland die Politiker*innen meist inhaltsleere Phrasen dreschen, faschisiert sich Deutschland wieder. Das Militär wird aufgerüstet. Die AfD kratzt in Umfragen für die Landtagswahl in Meck Pom an den 40 %.
Heute sind die Flaggen am Rathaus auf Halbmast, Politiker*innen erzählen was von Brandmauer, es gab den Aufstand der Anständigen und dennoch müssen wir uns fragen: Wer steht denn auf der Straße, wenn die Faschos aufmarschieren? Wenn Gaststätten Schilder mit „Juden Raus“ anbringen? Und wenn Deutschland die grandiose Idee hat, mal wieder eine gewaltige Armee aufzurüsten?
Aus diesem Grund wiegen wir uns mit euch Antifaschist*innen in besserer Gesellschaft. Wir freuen uns, mit euch heute einen Gedenkspaziergang zu gestalten, der hoffentlich zum Nachdenken und Aktivwerden anregt und nicht nur hohle Phrase ist.
Wir sind dabei natürlich nicht die besseren Erinnerungsweltmeister und wollen weiterhin lernen. Falls ihr Kritik oder Anregungen habt, könnt ihr uns jederzeit kontaktieren.
Zu guter Letzt soll uns der Schwur von Buchenwald mahnen: Nie wieder Faschismus, Nie wieder Krieg!
Quellen: https://vernetztes-erinnern-hildesheim.de/wp-content/uploads/Jan_Katastrophe_Hildesheimer_Juden.pdf
https://pogrome1938-niedersachsen.de/hildesheim/
https://www.stadt-hildesheim.de/portal/seiten/stolpersteine-900000468-33610.html
Siegert, Gedenken neu Denken, Piper Verlag
Prauss und Häger, Verfolgt, ermordet – unvergessen 101 Stolpersteine in Hildesheim, Gerstenbergverlag
Overesch, Bosch in Hildesheim 1937-1945, Vandenhoeck & Ruprecht
Czollek, Desintegriert euch, Hanser Verlag
Teich, Hildesheim und seine Antifaschisten
Thimm, Spuren des Nationalsozialismus in Hildesheim
Schmid, Hildesheim in der Zeit des Nationalsozialismus, Gerstenbergverlag
Bodemann, Die erfundene Gemeinschaft, Verbrecher Verlag
Bodemann, Gedächtnistheater, Rotbuch Verlag
Siemer, Das Mahnmal für die Synagoge am Lappenberg in Hildesheim, Entstehung, Gestalt, Deutung, Bernward Verlag